Dehnung als Prävention - oder warum Dehnung so wichtig ist

Quelle: Stegemann; Leistungsphysiologie

Um die Wichtigkeit der Dehnung der Muskulatur verstehen zu können muß man zunächst einige Grundlagen über den Aufbau der Muskulatur und ihre Arbeitsweise wissen.

Aufbau der Muskelfaser

Ein Muskel besteht aus mehreren Zellen, den sogenannten Muskelfasern, die wiederum in ihrem Inneren fädige Strukturen aufweisen, den Myofibrillen. Die Baueinheit jeder Myofibrille ist das Sarkomer, wobei die Sarkomere in einer Myofibrille hintereinander geschaltet sind. Jedes Sarkomer besteht wiederum aus noch feineren, fädigen Untereinheiten, den Myofilamenten. Diese haben zwei unterschiedliche Zusammensetzungen.

Das eine Filament besitzt den Eiweißkörper Myosin, das andere Filament besteht aus den Eiweißmolekülen Aktin, weshalb es auch als Aktinfilament bezeichnet wird.

Bei Kontraktion des Muskels entstehen unter Bildung eines Aktinmyosinkomplexes reversible Querbrücken zwischen den beiden Filamentensorten, die sich gleichzeitig aufeinander zubewegen.

Kontraktionsmechanismus der Muskulatur

Die Kontraktion kommt dadurch zustande, daß sich Aktin- und Myosinfilamente teleskopartig zusammenschieben, ohne dabei selbst ihre Länge zu verändern. Das gesamte Sarkomer wird dadurch verkürzt. Die Längenänderung eines einzigen Sarkomers ist zwar gering, durch die Hintereinanderschaltung addiert sich allerdings die Verkürzung im gesamten Muskel. Auch bei äußerer Dehnung des Muskels ändert sich die Länge der einzelnen Filamente nicht. Sie werden gegensinnig passiv auseinandergezogen.

Die mechanische Kontraktion des Sarkomers basiert auf einer chemischen Reaktion.
Ein Myosinfilament besteht aus vielen Myosinmolekülen, an deren Enden kleine Köpfchen sitzen. Bei Kontraktion lagern sich diese Köpfe an das benachbarte Aktinfilament an und bilden Querbrücken, welche chemisch miteinander zum Aktinmyosinkomplex reagieren. Dabei kippen die Köpfchen und verkürzen das Sarkomer.
Dieser Mechanismus wird durch eine ausreichende Konzentration an Calcium-Ionen in der Zelle gesteuert. Bei Erschlaffung der Muskulatur, und Abtransport der Calcium-Ionen aus der Zelle lösen sich die Querbrücken und das Sarkomer kann durch den antagonistischen Muskel wieder auseinander gezogen werden.

Bei Muskelermüdung ist nicht mehr ausreichend Energie vorhanden, welches die Calcium-Ionenpumpe antreibt, sodaß die Zelle nicht in der Lage ist alle Calcium-Ionen aus der Zelle herauszuschleusen. Es bleiben einige Querbrücken bestehen, sodaß der Muskel nach anstrengender Arbeit nicht mehr in seine Ausgangslänge zurückgelangt. Da eine Kraftentwicklung des Muskels durch die Anzahl gebildeter Querbrücken entsteht, ist es offensichtlich, daß ein Muskel mit bereits bestehenden Querbrücken nicht in der Lage ist, 100% Leistung zu erbringen.

Auf längere Sicht gesehen, bleiben bei einem Muskel, der nach verrichteter Arbeit nicht ausreichend gedehnt wird, immer mehr Querbrücken bestehen, sodaß die Leistung immer weiter abnimmt und eine immer stärkere Muskelverkürzung bleibt.
Die Ernährungslage eines verkürzten Muskels ist bereits an anderer Stelle erklärt, es sei nur noch einmal kurz wiederholt, daß keine ausreichende Blutzirkulation und Sauerstoffzufuhr gewährleistet ist und somit auch der Abtransport von Stoffwechselprodukten sowie die Regenerationszeit verlangsamt ist.

Nach anstrengender Muskelarbeit sollte daher der Muskel aureichend lange gedehnt werden, um zu garantieren, daß sich alle Querbrücken lösen und die Ausgangslänge erreicht wird. Dies wird mit Dehnungen von 1 - 2 Minuten Dauer pro Dehnübung erzielt. Bei sehr stark verkürzten Muskeln darf es auch bis zu 5 Minuten pro Übung werden. Generell muß beachtet werden, daß nur sehr langsam gedehnt werden darf, da sonst ein Kontraktionsreflex ausgelöst wird, der den Muskel dazu veranlaßt gegen die Dehnung zu arbeiten. Dies kann zu Verletzungen (Zerrungen) führen. Nie sollte über die Schmerzgrenze hinaus gedehnt werden. Eher wird die Dehnung gehalten und bei Abklingen des Dehnungsreizes nachgedehnt.

Ein stark verkürzter Muskel hat durch die verminderte Blutzirkulation Stoffwechselprodukte in den Zellen, die das Elektrolytgleichgewicht der Zelle stören. Deshalb ist eine einmalige Dehnung der Muskulatur nicht ausreichend, um die Ausgangslänge wieder herzustellen. Aber tägliches Dehnen der betreffenden Muskulatur führt bereits nach einer Woche zu einer enormen Verbesserung, denn je besser ein Muskel gedehnt ist, desto besser findet dort die Blutzirkulation und somit der Abtransport von Stoffwechselprodukten und eine schnellere Regeneration statt.

Dehnung vor sportlicher Betätigung

Vor jeder sportlichen Betätigung sollte nach dem Aufwärmen ebenfalls gedehnt werden, um den Muskel durch die Vordehnung leistungsfähiger zu machen. Allerdings sollte hier die Zeit von 10 Sekunden pro Dehnübung nicht überschritten werden, da bei zu langer Dehnung die Aktin- und Myosinfilamente zu sehr voneinander entfernt sind, und keine Querbrücken gebildet werden können. Somit kann auch keine Kraft entwickelt werden.

Auch der Rücken arbeitet

Als Muskelarbeit darf nicht nur die Muskulatur betrachtet werden, die sich sichtbar bewegt. Auch der Rücken besitzt viele Muskeln, die der Haltemuskulatur zugeordnet sind. Hierbei findet kaum bis keine sichtbare Bewegung statt. Dennoch wird auch hier Arbeit geleistet, um unsere Haltung zu gewährleisten. Auch hierbei werden Querbrücken gebildet, die, wie bereits oben erwähnt, für die Kraftentwicklung verantwortlich sind. Deshalb ist es auch besonders wichtig die Haltemuskeln des Rumpfes (Bauch, Rücken, Schulter und Nacken) ebenfalls zu dehnen. Dies wird leider zu häufig vergessen, da man sich der Dauer-Arbeitsleistung dieser Muskelgruppen nicht bewußt ist.

Dehnung als Prävention

Die bei Kontraktion des Muskels entstehenden Querbrücken sind nicht nur für die Kraftentwicklung verantwortlich. Der gesamte Kontraktionsmechanismus und der Strukturaufbau des Muskels sind auch bei Verletzungen (Zerrungen) beteiligt. Ungelöste Querbrücken durch vorhandene Calcium-Ionen und Stoffwechselprodukte können ein Zerreißen von Strukturen an anderen Stellen bewirken. Somit ist eine ausreichende Dehnung nicht nur als leistungserhaltende Maßnahme, sondern auch als gleichzeitige Prävention vor Sportverletzungen und als Garantie für eine schnelle Regeneration zu sehen. Aber auch die durch Dehnung hervorgerufene optimale Blutzirkulation und Sauerstoffversorgung, sowie der Abtransport von unerwünschten Stoffwechselprodukten, was die Elastizität des Muskels erhält, verhindern eine Muskelverhärtung und dienen somit auch als Prävention vor Muskelverspannungen.